Texte





Ostthüringer Zeitung, 31.03.2022



Zur Eröffnung der Ausstellung Maus im Wald, Neuenhaus, am 16.September 2013

Inside out – Falsche Erwartung, Dörte Mierau
dOCUMENTA13 / Der Künstler / Die Formen / Sprache Deutsch und Ostdeutsch / Die Ausstellung

     I.DOCUMENTA

Am Tag, da die dOCUMENTA13 ihre Türen schließt, geht es hier gleich mit der DOCUMENTA (14) weiter.
Fragen stehen im Raum dieser Ausstellung:

Nicht nur die Frage nach dem, was die „Maus im Wald zum Tannenzapfen“ macht. Dieses Verfahren ist und bleibt Geheimnis der Wahrnehmungs Metabletica des Künstlers Bernard Divendal. Ein Geheimnis, mit dem er uns Betrachter gern beschäftigt. Vielleicht braucht er sogar unsere Hilfe; wie er auch die Kunst beschwört, ihm Ordnung in das selbst erschaffte, weil so gefühlte/erfahrene und gelebte Chaos zu bringen.
Nein, mehr noch die Frage nach dem, was passiert, wenn die Maus schließlich auf die Erdbeere trifft, die, wie sie alle wissen, als fühlende Erdbeere mit denkenden Hunden grade ihren dOCUMENTA 13 Auftritt hatte.
Was dann also passiert könnte sich mit qualvoller Konsequenz in „Open Mind – Keine Ahnung“ abspielen, einem DOCUMENTA würdigen Aussenschauplatz.
Zwitterwesen aus: Billig(Erdbeer)Treibhaus; auf und zuschlagenden Versatzstücken postpostmodernen Trashs; hochkomplexer visualisierter Formenanalyse. Aber eben auch weltumfassende Tragödie: Tschernobyl; wirkungsloser Sarkophag; ausquellendes Gedärm.
Das Innere bloßgelegt/aufgerissen ins Außen getrieben. Inside-Out.

     II.Der Künstler

Bernard Divendal hat seine Spuren durch die niederländische Kunstwelt gezogen. Wo er ausstellt, folgt ihm eine Gemeinde Erwartungsvoller. In zahllosen Texten wird versucht, seiner habhaft zu werden.
Er gehört zu den wenigen Künstlern, deren Anfragen honoriert werden, ohne dass er sie mit Zeitgeistphrasen auszuschmücken für notwendig hält. Er besticht durch das andere Geheimnis der Kunst (und des Lebens): Authentizität. Die er sich erarbeitet, in dem er, wo’s gemütlich wird, einen anderen Weg einschlägt; dabei seine Weggefährten durchaus mitnimmt. Zeitgleich Flucht nach vorn und Lust am immer Neuen; an sich selbst, dem eigenen Vermögen, dem künstlerischen Wahnsinn, das Ultime erreichen zu wollen. Sich abringend das Werk, mit dem er für immer abschließen könnte - Um dann wieder aufs Neue zu  beginnen (können).

Denn auch das ist es mit Bernard Divendal: er erschafft sich die Voraussetzungen/Bedingungen seines Schaffens selbst, die Conditio sine qua non. Die dann, ganz klassisch, sich (er sie) entwickeln zu den Paradoxien der materialen Implikation, den berüchtigten intuitiven Problemen.
Was bei Divendal z.B. heißt: Er lässt irgendwann einmal die Farbe als Ausdrucksmittel los, verlässt das Zeichnen, kommt zur Skulptur, untersucht darin wiederum die Installation. Und wenn er dann nicht mehr malt, nicht mehr zeichnet usw., dann tritt die Farbe wieder auf. Wie Sie hier sehen können an den Wandskulpturen. Er leistet sich die Farbe wieder, wenn er sie nicht mehr nötig hat. Sie kommt auf ihn zu; in ganz anderer Gestalt. Als NichtFarbe, NichtEinsetzbaresMittel. Als NichvorderHand liegendes Mittel. Von Ihm aus der Hand gelegt. Ihm aus der Hand genommen in die Hand sich zurückgelegt.

     III.Die Formen/Sprache

Weil er es dann doch nicht so ganz hermeneutisch (tautologisch) mag, lässt er den Prozess a) sehen (Quellen, Skizzen, Modelle) und b) stehen (Unfertiges, Zufälliges). Bekennt sich als Perfektionist zum Geschluderten; bewegt sich auffällig ruhig in seinen Paradoxen; die auch ihn lieben; denn es wird ihnen durch Divendal ja doch eine elegante Hülle angemessen.
Diese schlussendliche Eleganz, Klarheit, Deutlichkeit und zugleich Fragen aufwerfende; der Ordnungswille, das Archivierende, das Serielle, das Losmachen des Materials aus seiner ersten Bedeutung, die Raumanalyse, das Reinlassen/passen des Alltäglichen, Banalen, sein Zugriff auf die Gesellschaft – das alles ist die Formensprache Divendals.
Sprache? Sprache! Dieses: Deutsch

     IV. Deutsch

„Doppelzimmer“, „Waldwärts“, „Alles in Ordnung“, „Keine Ahnung“, „Die Maus im Walde“ – sind die Elemente seiner Formensprache im/als materiefreier Metatext. Was er mit dieser heraufbeschwört, ist ihm wohl selber nicht geheuer. Die Maus wird bei/in solchen Geschichten schon mal zum Tannenzapfen.
Unabhängig von seinem Interesse zur deutschen Kultur und Bildenden Kunst als genuiner Basis, sind seine Sprachspiele – jedenfalls im Niederländischen (kulturellen) Kontext, wo sie mir begegnen – merkwürdig an- und abstoßend; Quelle größter Herausforderung.
Da hat jemand was mit Bild und Text und daraufgesetztem Metatext. Doch dieses wird umso frag/würdiger – Wo endet das Spiel? Wohin führt die Wirklichkeit? – wenn da noch die SprachFehlern die Sprachregel/Der übliche Konsens brechen.  Die mir begegnen; die Bernard Divendal hartnäckig verteidigt. Eben die: Falschen Erwartungen.

Aber langsam dämmert es mir, dass es grade diese (SprachSpiel)Fehler sind, die mich viel dichter an den Ursprung bringen, als es die reine Sprache, die Sprache an sich tun würde.

     V. Ostdeutsch Sein

So bleibt ein letztes Ärgernis aufzulösen. Diese verräterische Zuwendung, beinahe Zuneigung zum vermeintlich Ost Deutschen. Wie oft noch muss ich mir die Kittelschürze und das Wachstuch als Ostdeutsches Phänomen gefallen lassen? Was wird mir da gesagt? Wozu muss ich dienen und welche und wessen Erwartungen werden herausgefordert? Und können die etwas anders sein, als - falsch?

     VI. Die Ausstellung

Da hilft nur noch der Blick in die Ausstellung selbst/an sich.
Wir  schweifen von den „Seelen“ – ich nenne sie „Die sieben Todsünden/Völlerei“ -, über die „Profile“, das „“Archiv“ und den „“Prozess“ nach draußen zu „Open Mind – Keine Ahnung“. Halten uns auf bei „*“ und bewundern ein sorgsam aufgespannte Wachstuch.

Und was geschieht?
Dass das, was hier konzeptionell/kuratorisch beginnt mit einer auseinanderstrebenden Vielheit; was weiterhin (durchaus bewusst) sich vereinzelt und sich nicht zusammenhängend versteht/verstehen will, sogar nicht frei ist von einer gewissen Inkonsistenz (aber ist die nicht die Prise Salz?), das wird am Ende doch getragen von einer konsistenten Bild/Formen/GedankenSprache. Wie eben Klarheit, Deutlichkeit, Authentizität.

DOCUMENTA hin oder her. Maus, Tannenzapfen oder Erdbeere/Hund.:

Es ist dem Künstler gelungen, das Material aus seinem/dem Kontext zu befreien, den vorsätzlichen Gedanken aus dem Cliché, das Alltägliche vom Banalen.
Und mit diesen Befreiungsschlägen und den dargebotene visuellen Vergnügen - den Tag aus s/einem Unglück.

Die falsche Erwartung tritt ab und macht den Weg frei für die hohe Erwartung / den schönen Tag.
(Neuenhaus, 16.09.2012

 

(…) Ein performatives Werk wie “Die Wahrheit über Anton K.” von Bernard Divendal existiert am wirksamsten als Konzept und als Absicht. Der Zuschauer fühlt sich in den Helden ein, er fürchtet um ihn, doch in Wahrheit, in der Bewusstmachung der kafkaesk unterirdischen Dimension unseres Seins, fürchtet er um sich selbst. An diesem Punkt fühlt man sich als Spielball einer ferfeindeten, irrsinnig gewordenen Welt. Man wird durch die Windungen eines Systems getrieben, dessen Ausmaße man nich ahnt (…).

Ausschnitt aus: Die Phantasie hat Auslauf
Christoph Tannert, Geschäftsführer Künstlerhaus Bethanien Berlin,
im Katalog der 5. Höhlerbiennale, 2011

 

Doppelzimmer: Text im Faltblatt zur Ausstellung im Otto-Dix-Haus Gera, 2002

Den Ausgangspunkt für Bernard Divendals Projekt “Doppelzimmer” bilden acht großformatige Zeichnungen, die der Künstler dicht aneinander und in räumlicher Zuordnung im Ausstellungssaal positioniert hat. Sie zeigen jeweils einen Teil des gleichen Doppelzimmers aus dem “Hotel Tiefenthal”, das lediglich der Fiktion des Künstlers entspringt und zudem (nicht ohne Witz) auf dessen vermeintliche Genealogie anspielt.
Jedes Bild bietet einen Blick in das schlicht eingerichtete Zimmer vom annähernd gleichen Standpunkt aus, dessen Sichtwinkel allerdings immer um eine Nuance gegen den Uhrzeigersinn verschoben wird. Durch die veränderte Perspektive erfolgt im Rundgang des Betrachters eine vermeintlichen Drehung um die eigene Achse, bis er wieder am Anfang angelangt ist. Jede Zeichnung enthält durch die angeschnittenen Gegenstände einige fragmentarische Details der vorherigen, wodurch die Raumverhältnisse geklärt und alle Informationen über Position und Anordnung von Bett, Schrank, Tür, Teppich, Fenster, Alltagsutensilien und Sanitärkeramik im Zimmer definiert sind. Der Künstler hat damit einen imaginären Raum konstruiert, in den der Betrachter scheinbar eingetreten ist und überrascht angehalten wird, die Geometrie des doppelten Raumes neu zu bestimmen.
Divendal arbeitet bewusst mit dem Prinzip der Dopplung und mehrschichtigen Sinnebenen – ein Raum im Raum, ein Doppelzimmer für zwei Personen oder die Dopplung von Außen- und Innensicht, durch den weiten Fensterausblick auf einen Höhenzug und die bewaldeten Bergrücken, der als identisches Abbild im Bildgevierts des Gemäldes an der Wand erscheint und darauf verweist, was einst Hirn und Herz eines Malers emotional erreichte.
Dieses stille und menschenleere Zimmer erweist sich durchaus als intuitive Projektionsfläche, die für allerlei Ausdeutungen offen bleibt und das der Künstler im assoziativen Spiel mit Erinnerungen an Kindheit, Familie, Heimat, Urlaub oder dem heimlichen Treffen Liebender in der Abgeschiedenheit, absichtlich der Phantasie des Betrachters überlässt, eigene Geschichten hineinzulesen.
Die Ortsbezeichnung Tiefenthal scheint vertraut und assoziiert romantische Idylle in harmonischer Landschaft, in der sehnsuchtsvolle Träume gedeihen, die vom hektischen Puls moderner Lebensräume weit entfernt sind.
In seinen Gemälden beschäftigt sich der Maler seit geraumer Zeit mit modernen Stadt- und Kulturlandschaften. Enge Ausschnitte mit ungewöhnlichen Perspektiven, steile Empor- und Aufsichten, klare Gliederungen vertikaler und horizontaler Elemente, sowie winkelartige Verspannungen gegenläufiger Diagonalen, sind charakteristische Merkmale von Divendals Bildkompositionen. Doch hier – im Rhythmus eines Drehbuches, aus dem die Kulissenangaben skizzenhaft auf große Papierflächen geschrieben wurden – verwendet er die frontale Totalität illustrativer Zeichnungen, die in einen rechteckigen Raum verschiedene perspektivische Winkel zurückprojezieren und bleibt damit eher dem traditionellen Genre altniederländischer Interieurdarstellungen verpflichtet.
Divendals wandhohe Blätter sind keine Zeichnungen im herkömmlichen Sinne, sondern sind vielmehr als raumbezogene Installation mit zeichnerischen Elementen zu verstehen, als graphisches Ensemble, das sich mit Wahrnehmungsstrategien und inhärenten Spuren menschlicher Zivilisation auseinandersetzt. Im Spannungsfeld zwischen Abbild und Illusion, Oberflächenschein und Hintergründigkeit, Irritation und Selbstvergewisserung geht es Divendal um visuelle Räume und fiktive Lebenswelten, die durch bildnerische Resultate vermittelt, geordnet, manipuliert, geschönt oder bewusst werden können.
Mit diesem Projekt lotet er seine Möglichkeiten neu aus und balanciert auf schmalem Grat zwischen gegenständlicher Malerei und konzeptuellen Kunst.

In Bernard Divendals Malerei der 90er Jahre vollzog sich die Auseinandersetzung mit der kühlen Ordnung urbaner Welten. Seine Gemälde zeigen meist aus erhöhter Sicht den Blick auf verwaiste Parkplätze, Straßenecken, Haltestellen und Grünanlagen oder konzentrierten sich auf die schlichte Architektur städtischer Wohnhäuser, Unterführungen, Brücken, triste Hochhausbauten oder monotone Stadtviertel – Bilder, die in ihrer betonten Gegenständlichkeit durchaus in der Tradition des Magischen Realismus zu sehen sind.
Durch häufige Reisen nach Böhmen und in den Thüringer Wald wurde seine Bildwelt um die Berg- und Waldlandschaft erweitert, mit denen der Künstler seine neuentdeckte Seelenverwandschaft artikuliert.
Doch halt – trotz aller Faszination für die Schönheit des Thüringer Waldes verweigert sich Divendal einer romantischen Natursicht und setzt der unberührten Natur das nüchterne Bild einer durch menschliche Tätigkeit veränderten Kulturlandschaft entgegen, in der langgezogene oder gewundene Asphaltstraßen, Leitblanken und lineare Randstreifen das Landschaftsideal durchschneiden.
Das vermeintlich Ursprüngliche unterliegt fremdem Maß und Rhythmus, verzeichnet geradlinige Waldwege, helle Lichtungen, weite Durchblicke, klare Grenzen und gleichmäßigen Bewuchs, wogegen natürliche Formationen, Erdlöcher, Baumstämme und tonnenschwerer Findlinge mitunter als Störfaktoren und Fremdkörper erscheinen. In getrübter Harmonie, die vom postkartenschönen Tiefblau des Himmels und dem satten Grün der Wiesen und Wälder gelegentlich zurückerobert wird, behalten diese eigenwilligen Landschaften dennoch etwas Unergründliches, das die Frage nach dem Woher und Wohin nur mit offenen Ausgang zulässt.

Holger Peter Saupe

 

Dem Chaos zu Leibe (2. Fassung)

(Einführung, am 12. März 2002 in der Kunstsammlung Gera, Otto-Dix-Haus, zur Eröffnung der Ausstellung des Projektes ‘Doppelzimmer’ ausgesprochen)

(erstens:)
Meine sehr geehrte Damen und Herren!

Es ist für mich eine große Ehre sowie ein Vergnügen Ihnen in diesem Ort und an dieser Stelle, eine Auswahl meiner Arbeit zu zeigen.
Zuerst möchte ich versuchen Sie mit einigen meiner Gedanken in bezug auf mein Schaffen als Künstler vertraut zu machen. Danach möchte ich Ihnen einen kurzen Film zeigen.

Zu meiner Verbindung mit Otto Dix möchte ich übrigens erklären, dass dieser Maler mich immer wieder beruhigt in Bezug auf die Frage ob man als Künstler die Freiheit hat, oft seinen Thematik, Stil, oder Technik zu ändern. Otto Dix hat in seinem Künstlerleben mehr Wandlungen vollzogen als ich vermutlich je tun werde. Er zeigt aber, dass Thematik, Stil und Technik Elemente der Malerei sind, die sich aufgrund einer bestimmten künstlerischen Notwendigkeit, immer wieder neu kombinieren und neu hinterfragen lassen.

(zweitens:)
Wenn ich in die Welt in der wir leben hineinschaue, drängen sich unvermeidlich Begriffe wie Chaos und Ordnung auf. Das Chaos regiert, solange der Mensch sich nicht genügend darum bemüht eine notwendige Ordnung zu schaffen. Diese Ordnung ist aber eine Illusion, sowie auch das Chaos eine ist. Nur spüre ich in mir selbst, sowie bei vielen anderen Menschen, den Bedarf - und in meinem Fall auch das Vergnügen - dem Chaos zu Leibe zu gehen.
Mir steht dabei als Künstler die Malerei zu Verfügung.
Schon seit Jahren bin ich besonders daran interessiert, die von Menschen geformte und gestaltete Welt zu observieren und zu registrieren. Und in der letzten Zeit hat sich das weiter konzentriert auf die moderne Kulturlandschaft. In meiner alltäglichen Umgebung, also in den nördlichen Niederlanden, gibt es eigentlich keine Natur mehr (und das gleiche könnte man auch in bezug auf den größten Teil Deutschlands behaupten). Was wir als Natur bezeichnen und vielleicht zu pflegen versuchen, wurde schon längst des Menschen Ordnungslust unterworfen. Jeder Baum bekommt seinen Platz gezeigt und soll es nicht wagen, die Stelle zu ändern, auch wenn er die Fähigkeit dazu hätte.
Es gibt zwar, wie ich neulich erfahren habe, im Thüringer Wald, zum Beispiel am Großen Inselsberg, einige Waldteile die mit dem Namen ‘Totalreservat’ ausgeschmückt sind. Letztendlich ist es aber doch der Mensch der entschieden hat, diesem Teil seiner Umwelt – vermutlich nur vorübergehend -  dieses Prädikat zu schenken.
Der Mensch baut unermüdlich an einer Welt, wie sie nach seinem Bilde aussehen soll, und wie es ihm die Umstände erlauben.
Er macht sich darüber Gedanken, schafft Pläne, baut, erweitert, korrigiert und saniert – alles was möglich und wünschenswert ist. Er lässt sich dabei von keiner Katastrophe, es sei durch Krieg oder durch Naturgewalt, stören – bis alles fertig ist, und dann fängt er wieder von neuem an.

(drittens:)
Was ich möchte, und auch versuche, ist dieses Phänomen der Ordnungslust mit meiner Malerei zu verbinden. In meinen Bildern brauche ich vor allem eine Struktur, eine Idee, eine Form (wobei diese drei Begriffe eigentlich Synonyme sind).
Es gab mal eine Zeit in der ich mit rein abstrakten (konkreten) Formen zufrieden war.
Die Verbindung mit der Wirklichkeit hatte ich mir sogar untersagt. Heute ist das anders: die denkbare Wirklichkeit ist in den Bildern zu erkennen, es sei denn – und das muss ich betonen – dass die Vorstellung als Vorstellung immer dem Gemälde an sich untergeordnet ist.
Das Bild ist vor allem eine formelle Konstruktion.
Die Landschaftsbilder bekommen dadurch manchmal diese merkwürdigen Perspektiven, Bildausschnitte und farblichen Abstimmungen. Deswegen spielt auch die menschliche Figur keine Rolle in meiner Bildwelt: Die menschliche Figur würde einfach schon durch ihre Anwesenheit die Szene beherrschen. Es sind eher die Spuren der menschlichen Tätigkeit die ich in den Bildern zeigen will, nicht den Menschen selbst.

Übrigens halte ich es für notwendig, Schönheit sowie Häßlichkeit in meiner Malerei zu zeigen. Wie in der Wirklichkeit existieren die beiden Kategorien nebeneinander. Und ich möchte meinem Publikum weder eine Idylle, noch die Hölle vorführen. Vielleicht geht es mir nur darum, zu zeigen auf welcher Art und Weise ich selber mit der Bekämpfung des Chaos fertig werde.

(viertens:)
Sie werden inzwischen wohl verstanden haben, dass das Hauptwerk dieser Ausstellung hier im Dix-Haus – Das Doppelzimmer – eine außergewöhnliche Arbeit in meinem Oeuvre bildet. Schon von der Form, sowie von der Ausmaße. Dennoch passt es gut in meine Welt und in mein Schaffen. Das Hauptthema des ‘Doppelzimmers’ ist verbunden mit dem Erfassen eines Raumes, mit dessen Platz in der Landschaft, mit Standpunkt und Blickpunkt und deren Verschieben, mit der Natur, in der vorher schon erwähnten Bedeutung. Und natürlich mit dem Bezwingen des Chaos, wie das eben auch einen beschränkten Raum in einem imaginären Hotel scheinbar beherrschen kann.

(fünftens:)
Ich möchte Ihnen, meinen Damen und Herren, jetzt einen kurzen Film zeigen, den ich im Jahre 1998 gedreht habe und ich hoffe, dass dieser Film deutlich macht, wie ich eine Landschaft betrachte und was mich dabei fasziniert.
Die Aufnahmen stammen zum einen aus dem Harz in Deutschland und zum anderen zeigen sie die holländische Landschaft. Zum einen sehen Sie eine Landschaft, die trotz der Eingriffe des Menschen noch da ist, und zum anderen ermöglicht der Film einen Blick auf die holländische Polderlandschaft, die nur durch das Wirken des Menschen existent ist. Wie Sie sehen werden spielt ein Gemälde die Hauptrolle in dem Film: es fungiert als verbindendes Element in einer Serie von Landschaftsbeobachtungen.

(sechstens:)
Bevor wir uns den Film anschauen möchte ich Ihnen aber noch ein kleines Fragment vorlesen aus dem Buch “Heile Welt”,  von Walter Kempowski, aus dem Jahre 1998. Damals bin ich beim Lesen auf die folgende Beobachtung der Hauptfigur, also des jungen Lehrers Matthias, gestoßen. Er ist mit dem Fahrrad unterwegs zu seiner neuen Dorfschule (s.26-27):
‘Vom Mühlberg aus gab es eine pathetische Aussicht über das Urstromtal. Matthias lehnte sich auf dem Lenker und guckte in die Ferne. Wälder und sanfte Matten waren zu einer idealen Parklandschaft zusammengewachsen, in der sich die Eische  (ein Fluss, b.d.) schlängelte. Pflügende Trecker als Riesenspielzeug darin herumkriechend. (...) Was fängt man mit Aussicht an? Auf diesem Aussichtspunkt fehlte eine Panoramatafel, auf der das, was es hier jetzt zu sehen gab oder auch nicht zu sehen gab, erklärt wurde, damit man es mit der Landkarte vergleichen könnte: Urstromtal oder Geestrücken und die Namen der Dörfer oder weiß der Himmel was. Eine Übersichtstafel, sowie es im Hochgebirge für Touristen gibt, leicht geneigt, wie das Pult auf einer Kanzel, mit zweisprachigen Erklärungen, mit Pfeilen ins Bild hinein und unter Glas.
Was nützt einem die schönste Aussicht, wenn man nicht weiß, wie das heißt, was man sieht?’

Ich wünsche Ihnen einen relativ angenehmen Aufenthalt in dem Doppelzimmer, sowie in meinen Landschaften.

Gera, den 12. März 2002

Bernard Divendal.

(Bearbeitung eines Textes der ursprunglich diente zur Einführung zu einem öffentlichen Gespräch über die Ausstellung Rhythmus – Maß – Rasenplatz, in der Kunstsammlung Neubrandenburg, Dezember 1998.)

 

Die Zeichnungen von Bernard Divendal

Nach einem Text von Ewa Normann, bei der Ausstellung 'Verlorene Paradiese', in der Kirche zu Zuurdijk, Groningen, Juni/Juli 2005

Die Triebfeder in der Kunst Bernard Divendals ist die menschliche Kondition: die Frage nach dem Sinne der Existenz, dem Schicksal des Menschen:'Was schaffen wir hier, wie retten wir uns aus den Unannehmlichkeiten und weshalb gelingt uns das fast nie?' Die Werke des deutschen Expressionisten Max Beckmann die die Lebensangst des Menschen auf dramatischer Weise darstellen, sind für ihm eine wichtige Inspiration.
Trotz dieser Erkenntnis des menschlichen Unvermögen räumt Divendal in seine Bilder auch für Humor einen Platz ein. Er versucht in seinen Zeichnungen einen Gleichgewicht zwischen Leichtigkeit und Schwere zu erreichen.
Früher zeichnete und malte er Kultur-landschaften: Ausschnitte aus städtischen Szenen, in der der Mensch abwesend war. In seinen neuesten grossen Graphitzeichnungen steht der Mensch zum ersten mal im Vordergrund, sei es denn in einer bestimmten Interaktion mit seiner Umgebung. Diese Umgebung ist meistens eine natürliche, die manchmal wild und üppig, manchmal streng und stilisiert ist.
Ein Ding fällt direkt auf: die menschliche Figuren sind nackt. Ihre Nacktheit gewährt ihnen einerseits Anonimität. Andrerseits sind sie dadurch auch verwundbar. Sie sind nackt, zurückgeworfen auf ihre fundamentale menschliche Kondition und einer natürlichen Urlandschaft ausgeliefert. Assoziationen mit einer Art von Paradis sind hier aber völlig unberechtigt. Nach einem Blick auf die Zeichnungen fragt man sich, womit in Gottesnamen diese Menschen beschäftigt sind. Eins ist klar: sie haben es nicht leicht und es gibt ein heftiges Ringen, fast vergleichbar mit Szenen aus Dantes Hölle.
Auch das handeln mancher Figuren in Divendals Bildern ist sonderbar: in der Zeichnung 'Angry young tree' sieht man einen Mann der in voller Konzentration und Ernst mit einer unbegreiflichen Handlung beschäftigt ist. Wozu dient dieses kämpfen mit einer jungen Birke? Eine ebenfalls wichtige Haltung sehen wir in der Zeichnung 'Verbissener Mann'. Wie dieser Mann je in der Situation geraten ist, wo er sich jetzt befindet, ist nicht nachvollziehbar. Sein Kampf scheint aussichtslos zu sein. Er ist verwickelt in einer Geschichte ohne Anfang und ohne Ende. Dennoch sieht es so aus als ob er in seinem Streit eine art Befriedigung findet, die sogar seine Existenz rechtfertigt.
Auch der 'bedauernde Mann' in einer anderen Zeichnung ist sehr beschäftigt. Er sitzt, ebenfalls nackt, auf den Knien vor einem Baum in einem schummerigen Fichtenwald. Seine Miene verrät eine schwere geistige Aktivität. Er ist scheinbar völlig verschlossen in seiner Gedankenwelt.
Hier, sowie bei einem grossen Teil der anderen Protagonisten, spürt der Betrachter eine Ungereimtheit zwischen die konzentrierte Expression des Gesichtes und die von Natürlichkeit zeugende nackte Körper und Landschaften. Der 'bedauernde Mann' passt mit seiner preokkupierten Haltung und glatter Frisur wohl besser in einem Büro, in einem ordentlichen Anzug am Schreibtisch.
Nicht immer gelingt es den Figuren ihre Situation - auch nur scheinbar - unter Kontrolle zu bringen. Dem 'gefallenen Mann' ist der Kampf misslungen. Der Mann hat offensichlicht Halt und Kontrolle verloren.
Im 'Sündenfall' werden wir konfrontiert mit den Folgen eines Vergehens. Schuld (wer hat sie?), Scham, Ärger und Wut verfremden den Mensch von sich selbst und seinem Nächsten.

Trotz seiner früheren Interesse für städtische Umgebungen hat Bernard Divendal auch eine Faszination für die Natur der Wälder und Bergen. "Die Natur rührt mich. Sie korrigiert meinen Blick auf die Welt, bietet Vertröstung, Ruhe und Ablenkung." Auch die Formen in der Natur erregen seine Phantasie. Bäume sind für Divendal unerschöpfliche und dankbare Motive. Seine heutige Szenen spielen sich meistens in einer natürlichen Umgebung ab. Die menschliche Figuren sind aber kaum imstande sich hier einzufügen. Jeder für sich scheint von dieser, sowie von seiner eigenen Natur verfremdet zu sein. Er ist in seinem Kopf, in seinem Ego verschlossen.

Ewa Normann

 

Alles scheint eine Spur langsamer zu gehen
Von Katrin Wiesner, Gera

Der Niederländer Bernard Divendal ist Geras neuer Artist in Residence und will abstrakte Bilder ins Dreidimensionale umsetzen. 2002 hatte er ein "Doppelzimmer" im Geraer Otto-Dix-Haus nachempfunden. So wie er es in Pensionen bei seinen Reisen durch den Osten Deutschlands erlebt hatte. Eng, mit schweren Möbeln, auffallend akkurat alles. "Hotel Tiefenthal" hieß das Projekt, das nach Urlaub im Thüringer Wald klingt und zugleich eine Anlehnung an seinen eigenen Namen war: Bernard Divendal. Jetzt ist der 56-Jährige zurück in Gera. Und hat erst einmal sein Zimmer umgeräumt.
Ein Vierteljahr lang nutzt der Niederländer das Kulturförderprogramm der Stadt "Artists in Residence". In der Plattenbau-Wohnung am Kornmarkt, die die Stadt zur Verfügung stellt, hat er alle Ikea-Möbel zur Seite gerückt. "Zum Arbeiten brauche ich Raum und Leere", sagt er. Nachdem Platz geschaffen war, hat er sich ein Zeichenbrett von zwei Meter Länge gezimmert. Und ist, ehrlich gesagt, nun selbst recht gespannt, was die nächsten drei Monate auf ihn zukommt. "Ich will wissen, wie sich das Leben in meiner Heimatstadt Groningen von dem hier unterscheidet." Um das herauszufinden, sind Kontakte wichtig. Erst seit wenigen Tagen in der Stadt, kennt er die Nachbarn, meist ältere Herrschaften, schon mal vom Grüßen. Und etwas ist ihm bereits aufgefallen: "Irgendwie geht hier alles etwas langsamer." In den Arcaden zum Beispiel sei das Laufband zwischen den Geschossen eigentlich ein Stehband, weil sich die Kunden gemütlich fahren lassen, statt es zum schnelleren Fortkommen zu nutzen. Nein, unsymphatisch sei das nicht, nur eben ungewohnt.
Der Mann wird sich schon noch eingewöhnen. Die erste Tour mit seinem Sportrad hat er am Wochenende gedreht und die Landschaft genossen, er wird Künstlerkollegen treffen und natürlich abends mal in die Kneipen gehen. Von Gera aus will er Leipzig, Dresden, Weimar erkunden. Ein Zelt hat er sich mitgebracht für ausgedehnte Wanderungen im Thüringer Wald. Die Landschaft ist ein Grund, warum es ihn immer wieder nach Deutschland zieht. Ein anderer ist die jüngste Geschichte. Im kalten Krieg aufgewachsen, habe ihn die Wende beeindruckt: "Auch für uns im Westen ging plötzlich ein Weltbild unter. Ganz Europa hat sich durch den Mauerfall verändert."
Anders als noch für das "Hotel Tiefenthal" ist der Künstler Divendal zur abstrakten Malerei zurückgekehrt. Zurückgekehrt deswegen, weil sie ihn als Student an der Kunsthochschule Groningen geprägt hatte, bis er zum Figürlichen fand. Abstraktion ist für ihn ein Spiel mit Formen und Farben, mit Assoziationen, die während der Arbeit entstehen. Auch wenn sie nicht so offensichtlich sein werden, die Geraer Eindrücke sollen sich natürlich auch in der Arbeit wiederfinden, die während des Vierteljahres entsteht. Faszinierend an abstrakten Bildern findet Divendal die immer wieder entstehende Illusion von Räumlichkeit. Deswegen plant er eine Rauminstallation, ein dreidimensionales abstraktes Gemälde also. Im Kunstpavillon im Hofwiesenpark soll es zu sehen sein.
"Ich lasse mich überraschen, was jetzt kommt", sagt der Niederländer. Weil er noch mit einem Fuß zu Hause sei - bei seiner Frau, den drei Katzen, dem Atelier - und erst mit einem in Gera, hat er sich Bücher mitgebracht. Die Tagebücher von Max Beckmann, "einer meiner Helden". Und Musik, Klassik bis Captain Beefheart. Aber weil er auch schon halb angekommen ist, hat er sich hier eine Platte gekauft: Ostrock von den Puhdys.

Ostthüringer Zeitung 14.04.2008

 

Tekst in de catalogus “Alles in Ordnung”

„Nichts ist in den Dingen ohne Sinn“, formulierte Roemer Visscher, einer der berühmtesten holländischen Emblembuchverfasser, und verwies im 17. Jahrhundert auf die den dargestellten Dingen zugrunde liegenden Bedeutungen und Sinnbezüge in der altniederländischen Genre- und Landschaftsmalerei.
Diese Tradition scheint im Werk des niederländischen Künstlers Bernard Divendal, der im Rahmen des Artists-in-Residence-Programmes drei Monate in der Otto-Dix-Stadt Gera lebte und arbeitete, hintergründig nachzuwirken.
In den in Gera entstandenen Zeichnungen und Aquarellen hat sich der lange Zeit der Gegenständlichkeit verpflichtete Maler wieder der Abstraktion gewidmet. Grafische und malerische Elemente, die sich gegenseitig durchdringen und überlagern, fügt er zu einem abstrakten Bildgefüge zusammen, in denen mitunter noch gegenständliche Assoziationen aufscheinen.
Auf dieser Basis hat der Künstler die Konzeption für seine raumgreifende Installation „Alles in Ordnung“ entwickelt, die er im Electrabel-Pavillon im Hofwiesenpark realisiert hat.
Im Zentrum der Installation, die vier unterschiedliche Ansichten aufweist, hat er einen offenen und leeren Holzkubus positioniert, der als rationales Element ein konkretes Volumen definiert. Dem ordnet der Künstler Gegenstände aus dem städtischen Alltag zu und vollzieht zugleich eine strategische Umcodierung, der im Alltag scheinbar feststehenden Gebrauchszwecke.
Geblümte Kittelschürzen, die universellen Kleidungsstücke der älteren Generation für Küche, Haus und Garten, die neuerdings sogar zu skurrilen Kultobjekten stilisiert werden, erregen jenseits des praktischen Nutzens eher eine bildhafte Wirkung.
Die dekorativ bedruckten Wachstuchtischdecken erscheinen als ornamentale Bildflächen an der Wand, übereinander gestapelte Kunststoff-Tragekörbe als farbige Säule, aneinander gereihte Badeschuhe bleiben ungenutzt und stehen als Symbol für unbeschwerte Freizeit und sonnige Urlaubstage, dazwischen eine missliche Spur von Zigarettenstummeln, die der Künstler im Stadtraum gesammelt hat. Ein Drahtgestell könnte Blumen beim Wachstum halten, eine gelbe Wandfläche erzeugt eine intensive Farbwirkung und gibt geometrische Ordnung vor, das verzweigte Rohrsystem ist eine reduzierte Skulptur und vermittelt zugleich eine lineare Struktur. Der schon viereckig gewachsene Stamm mit Birkenrinde ist vielleicht ein genetischer Wunschtraum der Forstwirtschaft und zeigt vielmehr Natur, die keine mehr ist.
An einem mit Leiteraufstieg versehenen Holzgestell, das durchaus an einen Jägerhochsitz erinnert, wurde die Imitation einer prächtigen Geweihtrophäe befestigt. In dem auf dem Boden platzierten Bildteppich blickt sie scheinbar auf einen Lebensmoment des stattlichen Hirsches zurück. Mit dieser Gegenüberstellung von Leben und Tod hat der Künstler ein eigenwilliges Vanitas-Motiv formuliert. Um Rationalität und Irrationalität oder anders ausgedrückt um „die Bewältigung des Chaos“ geht es auch in dem zweiten Raumquader, den der Künstler im Mittelpavillon der Orangerie aufgestellt hat.
Hier zielt er auf die Illusion und verunsichert unsere Wahrnehmung, denn mitunter glaubt man, dass der Quader von diagonalen Glasflächen durchdrungen ist, an denen sich Kugel, Stäbe, Hohlzylinder, Textilgaze, Früchteborde und die banalen Haushaltsgegenstände zu spiegeln scheinen – Realität und Fiktion, Sein und Schein geraten so in wankelmütiges Spiel.

Holger Peter Saupe, Gera, augustus 2008

 

Bernard Divendal
Vorfälle und spekulative Gedanken
während eines Aufenthalts in Gera

Maus im Wald
Bei einer langen Wanderung im Thüringer Wald lag vor mir auf dem Weg einige Male eine tote Maus. Das führte zu der kleinen Phantasie, dass es immer die gleiche Maus war, die ein Spiel mit mir machte: sie rannte mir voraus, legte sich auf den Waldweg, stellte sich tot, um, als ich vorbeigekommen war, sich aufzurichten und heimlich ein Stück weiter zu rennen und die Täuschung zu wiederholen. Bis ich das Spiel verstand. Dann aber hatte sie (die Maus) den Einfall, sich als schöner schlanker Tannenzapfen zu vermummen. Der Gedanke aber, dass alle im Walde herumliegenden Tannenzapfen auch tote Mäuse sein könnten, hat mich dann doch ein wenig mitgenommen.

Stadtvermarktung
Während meines Aufenthalts in Gera bin ich verschiedene Male in andere Orte gereist. So führte der Weg unter anderem in die Lucas-Cranach-Stadt Kronach, die Hannah-Höch-Stadt Gotha, die Karl-Schmidt-Rottluff-Stadt Chemnitz, die Jacob-Samuel-Beck (1715-1778)-Stadt Erfurt, die Max-Beckmann-Stadt Leipzig, die Max-Klinger-Stadt Leipzig und die Max-Pechstein-Stadt Zwickau. Jedesmal aber kehrte ich zurück in die Max-Bahr-Stadt Gera.*

(* Gera ist der Geburtsort des Malers Otto Dix. Die Stadt profiliert sich heute deswegen als Otto-Dix-Stadt Gera. Max Bahr ist der Name eines großen, von mir häufig besuchten Baumarkts am Geraer Stadtrand.)

Unerwartete Sorgsamkeit
Bei einem meiner abendlichen Zigarettenstummelsammelrundgänge durch die Stadt (ich brauchte viele Stummel für meine Installation) sah mir ein Mann aus seinem Fenster bei meiner Arbeit zu. Er rief und winkte mich heran: Ob ich die zum Rauchen brauche? Er hätte wohl ein bisschen Tabak für mich… Ich war gerührt und erklärte ihm, wozu die Stummel dienen sollen. Er war beruhigt. Ach so, für die Kunst! Wir hatten darauf ein schönes Gespräch.
Das heisst: der Mann erzählte mir in Kurzfassung seine Lebensgeschichte. Stichworte: Jahrgang 1946, Amikind, von Mutter und Grossmutter erzogen, manchmal im Knast, 1987 in den Westen abgehauen, LKW-Fahrer gewesen, seinen Vater in Amerika nicht gefunden, als Rentner zurück nach Gera, zufrieden jetzt.

Liebe für die deutsche Sprache I
Eine Maschine aus dem Bergbau ist jetzt im Ronneburger Museumsgelände aufgestellt: der Überkopfwurfschaufellader (PML 63). Wie wurde das Ding wohl im täglichen Gebrauch genannt? Denn ein Satz wie: “Na, Uli, wo steckt denn jetzt wieder unser Überkopfwurfschaufellader”, wäre doch eine allzu umständliche Formulierung in der Umgangssprache der Bergarbeiter.

Löwenschweif und Bier
In einer Nacht im Juni wurde der bronzene Löwe vorm Stadtmuseum Opfer des Vandalismus. Er verlor seinen Schwanz (oder Schweif, wie die Zeitung schrieb). Die Vermutung, dass die Vandalen wegen des Bierkonsums zu ihren Tat angeregt wurden, wäre wohl zurecht.
Die Ironie ist, dass eine grosse Brauerei in der Nähe von Gera als Sponsor von Veranstaltungen im kulturellen Bereich auftritt. “Offenbar haben die Vandalen Bier einer anderen Marke getrunken”, könnte ein Sprecher des Brauhauses gesagt haben. “Unser Bier regt keine Agression an. Es stärkt sogar die Liebe zur Kunst”.
Der Schwanz ist inzwischen wieder da. Und das Bier fließt wie immer.

Wo ist Lenin?
Es gab eine Zeit, da hieß der heutige Platz der Demokratie Leninpark. Zu dieser Zeit stand, oder besser gesagt, saß da eine gedankenvolle Leninstatue. Im Jahr 1994 wurde der bronzene Staatsmann im Auftrag des damaligen Oberbürgermeisters einigermaßen heimlich von seinem Sockel gehoben. Der Sockel steht noch immer da, sein Name ist darauf gekalkt. Lenin ruht bis heute auf einem Lagerplatz im Osten der Stadt. Liegt auf seiner Seite in einer beschützten Ecke, erweckt aber den Eindruck dass er es schätzen würde, wenn man ihn dann und wann auf seine andere Seite drehe.

Liebe für die deutsche Sprache II
Bei einem Gespräch in der Kneipe unter Beamten, Angestellten, Künstlern, Architekten und anderen kleinen Unternehmern kam man auf die Frage, ob die Freischaffenden sich selbstständig oder selbsttätig nennen sollten. Eine Antwort darauf fanden wir nicht.
Auf der Tür des Fahrstuhls zu meiner Wohnung steht aber geschrieben, dass diese selbsttätig schliesst. Man kann aber so eine Tür doch beschwerlich als Kleinunternehmer betrachten?

So einfach ist es
Kurz vor der Stadt Kronach stand an der Straße ein grosses Werbeschild mit dem Text: “Sind Sie glücklich? Dann haben Sie bestimmt bei uns Ihre neue Küche gekauft!” Das wäre doch was! Alle Probleme auf einmal gelöst. Einfach eine Küche kaufen! Aber, wie gesagt, es war bei Kronach, und das ist schon in Bayern.

Zeitungsnachricht
Kurz nach meiner Ankunft in Gera las ich in der Ostthüringer Zeitung eine Nachricht mit der Schlagzeile “Lederhose sucht einen Jäger”.
Damals wusste ich noch nicht, dass es in der Nähe von Gera ein Dorf mit dem Namen eines für einen Nicht-Deutschen immer doch etwas merkwürdigen Kleidungsstücks gibt.

Lustige Witwe (Frau Schuhmacher)
“Wenn es heute knallt, dann habe ich mich aus Anstand erschossen,” sagte eines Tages meine Nachbarin Frau Schuhmacher, als sie in den Fahrstuhl stieg.
Bei jeder Begegnung hat die kleine alte Dame ihren Schlaganfall von vor drei Jahren erwähnt, und dass dieser nach der Meinung ihres Arztes eine Spätfolge ihrer Erfahrungen in Dresden im Februar 1945 sei. Sie war immer heiterer Laune.

Schwierige Topographie
Bei meinem fast täglichen Spaziergang durch die Innenstadt kam ich oft an einem Platz vorbei, dessen Name ich vor Ort jedesmal vergeblich versucht habe ohne Zögern auszusprechen: “Zschochernplatz”.

Alles in Ordnung
An der Kasse im Kaufmarkt in der Heinrichstraße wurde ich oft gefragt, ob alles in Ordnung gewesen sei beim Einkaufen. Diese Frage hat mich immer wieder gerührt, auch wenn ich inzwischen verstand, dass dieser Satz zu den Dienstanweisungen der Kassiererinnen gehört. Ich habe immer bestätigend geantwortet: Ja, alles war in Ordnung.

Anlage zum Katalog “Alles in Ordnung”. © 2008 Bernard Divendal


Ostthüringer Zeitung 090808